Mit “reifen Persönlichkeiten” beschreibt man eher selten die unappetitlichen krabbelnden Gesellen, auf die man täglich in Hongkong stößt. Persönlichkeit umfasst ein bestimmtes soziales Verhalten: hartnäckig, mutig, bezaubernd, bescheiden, aggressiv etc. Einige Wirbellose sind das zweifellos: Bienen, Spinnen, Octopusse. Aber niemand hat bisher Küchenschaben darauf untersucht. Der Name Küchenschabe, auch Kakerlake, wird für eine Reihe von Arten der Schaben, Familie Blattidae, verwendet, die in menschlichen Behausungen leben und als Vorratsschädlinge betrachtet werden.
Dr. Isaac Planas-Sitjà, Verhaltens-Ökologe an der Freien Universität Brüssel, interessieren die Schaben, weil sie hierarchielos, also relativ unabhängig, in Gruppen leben. Zur Identifizierung klebte er 304 männlichen Schaben winzige elektronische Chips auf den Brustkorb. Langjährige Biolumnen-Leser erinnern sich an meine nummerierten Fliegen und Spatzen. 19 Gruppen mit je 16 männlichen, vier Monate alten Schaben wurden gebildet. Dreimal in der Woche wurden die Lichtscheuen in eine quälend hell erleuchtete Arena gesetzt. Zwei identische Plexiglasscheiben mit Rotlichtfiltern lieferten allerdings Kreise als Fluchtorte für die Insekten. Alle 16 Schaben passten ohne Drängelei gut in die Schutzzone. Etwa 3 Stunden lang maßen die Forscher nun wiederholt die Zeiten der Schaben im Fluchtort und wie lange es bis zum ersten Besuch dauerte. Wenn alle Insekten Übereinstimmung zum Ort gefunden hatten, wurde das als Indikator für „Gruppen-Persönlichkeit“ gewertet.
Die „Angsthasen“ rannten natürlich nach Betreten der Arena sofort panikartig in die Schutzzone. Die “Mutigen” erkundeten dagegen zuerst das Terrain. In jedem Test benahmen sich beide Extreme reproduzierbar. Einmal Angsthase, immer Angsthase! Aber am Ende jedes Experiments kauerten alle Gruppen erfolgreich zusammengedrängt im selben Schutzort. Dies ist offenbar ein kollektiver dynamischer Effekt. In der (Schaben-) Gruppe endet man letztlich immer mit einem ähnlichen Verhalten und richtet sich nach den Anderen, und das ohne Anführer. Die Gruppen-Persönlichkeit ist also nicht etwa die Summe der Persönlichkeiten. Das Ganze ist größer als die Summe seiner Teile, sagte schon Aristoteles. Das Ergebnis war typisch für die großmäulige Amerikanische Großschabe (Periplaneta americana). Ob das auch für die bescheidenere, weitaus aktivere Deutsche Schabe (Blattella germanica) zutrifft?
Zum Schluss eine Hongkonger Anekdote: Vor einiger Zeit verweigerte ich „mutig“ als Einziger im Bereich Chemie die radikale Schabenbekämpfung mit hochgiftigen Insektiziden. Als ich am Morgen danach mein Büro aufschloss, stockte mir der Atem: Es begrüßten mich zahllose putzmuntere Krabbeltiere aus den besprühten Zimmern meiner Kollegen. Tapfere Team-Arbeit der Schaben! Wenig später gab es ein lautstarkes schadenfrohes Gelächter über mich naive Langnase! Mutige Gruppen-Persönlichkeit „meiner“ Chinesen?